Die Chaostheorie und ein Schmetterling

chaostheorie

Es war die Zahl 0,506127, die das Weltbild der modernen Naturwissenschaften revolutionieren sollte. Der amerikanische Meteorologe Edward Lorenz gab im Jahre 1963 diese Ziffernfolge in den Großrechner des Massachusetts Institute of Technology (MIT) ein – nur ein kleiner Datenhappen, mit dem der Forscher sein neues Computerprogramm zur besseren Vorhersage des Wetters fütterte.

Als er bei einem weiteren Test des neuen Systems die letzten drei Ziffern versehentlich wegließ und dem Computer nur 0,506 als Startwert für die komplizierte Rechnung anbot, spuckte dieser am Ende ein vollkommen anderes Ergebnis aus. Sollten nicht winzige Abweichungen beim Ausgangszustand zu nahezu gleichen Ergebnissen führen?

Lorenz war überaus verblüfft und vermutete zunächst ein Computerproblem. Doch schnell wurde ihm klar, dass es sich hier keinesfalls um einen Fehler handelt. Es ist tatsächlich so: Kleine Ursachen können große Wirkungen haben. Was dem Volksmund eigentlich schon immer klar war, wurde plötzlich zum ernsten Gegenstand der Wissenschaft. Und die schenkte den Menschen für das von Lorenz entdeckte Phänomen den bis heute populär gebliebenen Begriff vom „Schmetterlingseffekt“.

Künstlerische Darstellung des „Schmetterlingseffekts“. Bild: ledaza

Ein Schmetterling, der zum Beispiel in Shanghai mit seinen Flügeln wackelt, könnte damit – so die plakative Vereinfachung und Übertreibung – einen Wirbelsturm in New York auslösen. Diese Metapher steht dafür, dass Wetter global und langfristig nicht vorhersagbar ist. Dafür sind die Zusammenhänge einfach zu komplex. Schon ein kleiner, unvorhergesehener Einfluss kann dafür sorgen, dass alles eben doch ganz anders wird. Das Wetter ist und bleibt chaotisch.

Mit seiner Zufallsentdeckung wurde der Wetterforscher Lorenz zum Vater der berühmten Chaostheorie, die anfangs von der Wissenschaftlergemeinde eher ignoriert, dann als Unfug gebrandmarkt und schließlich euphorisch gefeiert wurde. Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre gab es schließlich eine regelrechte Lawine populärwissenschaftlicher „Chaos“-Bücher. Wurde da das mythologisch besetzte Tohuwabohu von der Wissenschaft entzaubert? Eine faszinierende Perspektive für die Leser.

Deutlich weniger Menschen hätten sich für die Chaostheorie interessiert, wenn sie als „Dynamik nicht linearer Systeme“ oder als „Komplexitätstheorie“ bezeichnet worden wäre – was in der schnöden Nomenklatur der Wissenschaft durchaus korrekt gewesen wäre. Insofern ist die Chaostheorie auch ein Beispiel für gelungene Wissenschafts-PR. Dies führte wiederum dazu, dass die Chaosforschung in den Forschungsinstituten vorübergehend zu einer gern geförderten Modedisziplin wurde.

Von der Astronomie über die Wirtschaftswissenschaften bis hin zur Medizin – plötzlich spielte das Chaos überall eine gewichtige Rolle. Richtig, denn überall dort beschreiben nicht lineare Gleichungen die Realität. Bis heute ist diese Mathematik eine wichtige Querschnittsdisziplin geblieben, doch inzwischen distanzieren sich die meisten Wissenschaftler von dem in ihren Augen zu populären und von den Medien verbrauchten Begriff „Chaostheorie“.

Edward Lorenz ist am Mittwoch im Alter von 90 Jahren in seinem Haus in Cambridge (Massachusetts) gestorben. Bis zuletzt hatte er in einem Hochhaus des MIT ein Arbeitszimmer gehabt. Der 1917 in West Hartford (Connecticut) geborene Lorenz hatte zunächst Mathematik studiert und ab 1942 bei der US Air Force am Erstellen von Wettervorhersagen mitgearbeitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschloss sich Lorenz dazu, Meteorologie zu studieren. Er ging zum MIT, promovierte, wurde Professor und blieb dann dieser Eliteuniversität ein Leben lang treu.

Natürlich brachte die Chaostheorie Lorenz eine ganze Fülle von Ehrungen und Auszeichnungen ein – beispielsweise 1991 den renommierten Kyoto-Preis für Grundwissenschaften. In der Laudatio wurde seine Arbeit „als eine der dramatischsten Veränderungen in der Sicht der Menschheit auf die Natur seit Sir Isaac Newton“ gewürdigt. Einige Wissenschaftler bezeichnen die Chaostheorie gemeinsam mit der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der von Max Planck begründeten Quantenphysik sogar als eine der drei wissenschaftlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts.

Tatsächlich hatte Lorenz einen Paradigmenwechsel herbeigeführt. Galt es vorher als ausgemacht, dass in der makroskopischen Welt alle künftigen Entwicklungen prinzipiell vorausberechnet werden können, wenn man nur über genügend Rechenkapazität verfügt, so war mit einem Mal klar geworden, dass langfristige Aussagen über die Zukunft praktisch nirgendwo möglich sind. Beim Wetter hätte man das vielleicht auch schon vorher geglaubt, doch erst im Zeitalter der Chaostheorie wurde beispielsweise erkannt, dass auch die Umläufe der Planeten und Monde in unserem Sonnensystem nicht für alle Zeiten im Voraus berechnet werden können. Kleine Unsicherheiten in den Anfangsbedingungen können auch hier langfristig zu großen Abweichungen führen. Auch im Planetensystem herrscht Chaos.

Schon als Kind, so sagte Lorenz einmal, hätte er gewusst, dass er später einmal etwas mit Zahlen machen wollte. Wäre es jedoch nur bei Zahlen und Formeln geblieben, hätte die Chaostheorie nicht die Aufmerksamkeit von Millionen Menschen erringen können. Mathematisch eng verwandt mit dem Chaos sind die sogenannten Fraktale, jene ästhetischen Muster, die von Computern mit vergleichsweise simplen Formeln errechnet werden und in Teilausschnitten immer wieder das gesamte Gebilde enthalten. Mathematiker nennen das Selbstähnlichkeit. Pioniere der Fraktal-Forschung waren der polnisch-französische Mathematiker Benoit Mandelbrot und der Amerikaner Mitchell Feigenbaum. Viele Menschen spüren beim Betrachten dieser Bilder einen magischen Sog in das Unendliche. Chaos und Unendlichkeit – was könnte besser zueinander passen?

Grafische Darstellung eines Lorenz-Attraktors. Bild: wikipedia

Das erste Fraktal wurde von Lorenz selbst erschaffen: der sogenannte Lorenz-Attraktor. Dabei handelt es sich um ein schleifenförmiges Gebilde im dreidimensionalen Raum, das die physikalischen Parameter eines Wetterphänomens beschreibt. Wichtig ist nur: Bei dieser zwischen zwei Polen hin und her schwingenden Kurve kann man nicht wissen, ob sie beim nächsten Umlauf nach links oder rechts abbiegt. Obwohl alle physikalischen Gesetze zum Beschreiben des betrachteten Vorgangs bekannt sind, bleiben Vorhersagen unmöglich – mal geht es nach links, mal nach rechts. Auch im Alltag finden sich überall chaotische Phänomene, die sich nur sehr schwer oder gar nicht mathematisch beschreiben lassen. Der tropfende Wasserhahn gehört beispielsweise dazu. Nach wie vielen Sekunden es das nächste Mal „Plopp“ macht, lässt sich nicht vorhersagen. Ebenso ist es unmöglich zu wissen, wann es das nächste Mal einen Stau am Hildener Kreuz geben wird. Das Entstehen und Vergehen von Autobahnstaus lässt sich nicht prognostizieren. Ganz zu Recht spricht man deshalb vom Verkehrschaos.

Der Charme der Chaostheorie besteht jedoch darin, dass gleichwohl bestimmte Aussagen und Vorhersagen auch in chaotischen Systemen möglich sind – streng genommen müsste man sagen: „in Systemen mit deterministischem Chaos“. Denn jenseits dieses Chaos, in dem sich versteckte Eigenschaften erkennen lassen, gibt es ein Chaos, das auch die besten Chaosforscher nicht zähmen und über das sie keine Aussagen machen können. Hier bleibt Raum für Mythen.

Die Hoffnung darauf, in einem nur scheinbaren Chaos verborgene Strukturen entdecken zu können, elektrisierte verständlicherweise Wirtschaftswissenschaftler und Börsenspekulanten. Ein Wesensmerkmal von Aktienmärkten ist zweifelsohne ihre Neigung zum Chaos. Lässt sich dieses Chaos aber nicht vielleicht doch beherrschen, und lassen sich Börsenkurse nicht vielleicht doch vorhersagen? Bis heute hat hier offenbar noch niemand den ultimativen Schlüssel zum Reichtum gefunden, doch viele Forscher haben sich mit dem Thema Finanzmärkte und Chaos beschäftigt.

Sogar Benoit Mandelbrot veröffentlichte vor vier Jahren sein Buch „The (Mis)behavior of Markets„. Auf jeden Fall bleibt das Chaos auch nach 40 Jahren Chaosforschung ein Quell für Kreativität. Friedrich Nietzsche hatte wohl recht: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

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10 Antworten zu Die Chaostheorie und ein Schmetterling

  1. kinder unlimited schreibt:

    Ein Mathematiker erklärte mir neulich, dass der Schmetterling Effekt ein schlecht gestelltes mathematisches Problem sei!

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  2. wordBUZZz schreibt:

    Sag mal, ist dir die Idee spontan gekommen zu dem Artikel oder hast du zufällig zu viel Until Dawn oder Life is Strange gespielt? 😉 Vielleicht auch nur „Lola rennt“ geschaut?

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